Dienstag, 1. April 2014

Alphatiere und Europäer



An Wladimir Putin scheiden sich die Geister. Oder an Erdogan. Oder am amerikanischen Politiker XY. Wer wird der Nächste sein, den die Europäer nicht verstehen? Seit Jahren versuchen unsere Medien und viele Netizens die Niederlage der Alphatiere in der Politik herbeizuschreiben. Dabei unterliegen sie einer Fehleinschätzung nach der anderen. Woran liegt das? Eine kurze Spurensuche.

Der begrenzte Horizont des Netizens

Jeder, der sich im Netz bewegt und globale Produkte konsumiert, der hat ähnliche Bedürfnisse, wünscht sich Freiheit, Minderheitenrechte und eine Menge Spaß auf seinem Smartphone. So die landläufige Kausalkette.

Bullshit!

Kulturen sind sehr viel resistenter gegen äußere Einflüsse, als der moderne Westler glaubt. Die Taliban benutzen gerne Handys, um ihre Bomben zu zünden und ihre Gesellschaft zurück ins Mittelalter zu befördern. In Asien gilt das Wort des Familienoberhaupts noch immer am meisten, in vielen Ländern zählt unsere Organisation von Gesellschaft als dekadent und dem Untergang geweiht, trotz unserer wirtschaftlichen Erfolge.

Faszinierend dabei ist nicht die Tatsache dieser Unterschiede an sich - sondern die mangelnde Kenntnis in unserer Gesellschaft, dass nicht jeder unserem Modell nacheifern möchte. Bei zahlreichen Konflikten der jüngsten Zeit, vom arabischen Frühling bis zur Krimkrise oder den Wahlen in der Türkei, zeigt sich die immer gleiche Fehleinschätzung der Europäer. Erstaunlich dabei: Frühere Generationen verfügten über deutlich weniger eigene Erfahrungen in anderen Ländern, bewahrten sich aber eine gesunde Distanz zu anderen Kulturen: Andere Länder, andere Sitten - ein kluger Satz.

Das verpönte Gefühl

Obwohl wir uns als Gesellschaft immer mehr in die Kuschelecke bewegen, unsere Kinder verhätscheln, uns gegenseitig virtuell versichern, wie sehr wir uns lieben und vermissen, obwohl wir geradezu infantile Sehnsüchte entwickeln, haben wir im gleichen Tempo das Gefühl aus der Politik entfernt - abgesehen vom Reflex der Empörung, der Wut, der Fassungslosigkeit. Das große Gefühl, das an die Gemeinschaft appelliert, der Patriotismus, das Familiendenken, all das, was uns als Gesellschaft mehr Bedeutung verleiht als die Summe der Einzelnen, gilt als verpönt.

Ausländische Politiker, die es schaffen, solche für jede Gemeinschaft wichtigen Gefühle zu bedienen, werden mit entsprechenden Vokabeln belegt: Vom Populisten, Machiavellisten bis zum modernen Faschisten.

Unsere Antwort ist dagegen der abstrakte Begriff, der einem höheren Ziel dient: Wer glaubt, dass jemand als "Verfassungspatriot" in Wallung gerät, kann natürlich nicht verstehen, dass andere ihr Land "lieben" und hält dies sogar für eine gefährliche Gefühlsregung. In Deutschland wird gerne das Lied vom "EU-Bürger" gesungen und gleichzeitig reagieren Medien und Politik verständnislos auf die Entfremdung von diesem Kunstgebilde. Die FDP taumelt der kompletten Bedeutungslosigkeit entgegen und fabuliert etwas von "Liberalismus" - wessen Puls schlägt schneller, wenn er diesen Begriff vernimmt?

Der Bauch gehört in die Politik

Sind wir körperlose Wesen, die nur eine Reihe chemischer Reaktionen abarbeiten - oder Wesen, die Ängste haben, Freude verspüren, sich animieren oder deprimieren lassen, Initiative entwickeln oder geführt werden wollen?

Der Bauch gehört in die Politik. Das haben viele geschmähte Politiker von Sarah Palin bis Wladimir Putin begriffen - ganz egal, was man von ihrer jeweiligen Politik hält. Je weniger wir das verstehen, umso stärker wird die Entfremdung von Politik anhalten. Und umso wahrscheinlicher werden begabte Alphatiere den Sieg gegen die abstrahierenden Weicheier davontragen.