An Wladimir Putin scheiden sich die Geister. Oder an
Erdogan. Oder am amerikanischen Politiker XY. Wer wird der Nächste sein, den
die Europäer nicht verstehen? Seit Jahren versuchen unsere Medien und viele
Netizens die Niederlage der Alphatiere in der Politik herbeizuschreiben. Dabei
unterliegen sie einer Fehleinschätzung nach der anderen. Woran liegt das? Eine
kurze Spurensuche.
Der begrenzte Horizont
des Netizens
Jeder, der sich im Netz bewegt und globale Produkte
konsumiert, der hat ähnliche Bedürfnisse, wünscht sich Freiheit,
Minderheitenrechte und eine Menge Spaß auf seinem Smartphone. So die
landläufige Kausalkette.
Bullshit!
Kulturen sind sehr viel resistenter gegen äußere Einflüsse,
als der moderne Westler glaubt. Die Taliban benutzen gerne Handys, um ihre
Bomben zu zünden und ihre Gesellschaft zurück ins Mittelalter zu befördern. In
Asien gilt das Wort des Familienoberhaupts noch immer am meisten, in vielen
Ländern zählt unsere Organisation von Gesellschaft als dekadent und dem
Untergang geweiht, trotz unserer wirtschaftlichen Erfolge.
Faszinierend dabei ist nicht die Tatsache dieser
Unterschiede an sich - sondern die mangelnde Kenntnis in unserer Gesellschaft,
dass nicht jeder unserem Modell nacheifern möchte. Bei zahlreichen Konflikten
der jüngsten Zeit, vom arabischen Frühling bis zur Krimkrise oder den Wahlen in
der Türkei, zeigt sich die immer gleiche Fehleinschätzung der Europäer. Erstaunlich
dabei: Frühere Generationen verfügten über deutlich weniger eigene Erfahrungen
in anderen Ländern, bewahrten sich aber eine gesunde Distanz zu anderen
Kulturen: Andere Länder, andere Sitten - ein kluger Satz.
Das verpönte Gefühl
Obwohl wir uns als Gesellschaft immer mehr in die
Kuschelecke bewegen, unsere Kinder verhätscheln, uns gegenseitig virtuell
versichern, wie sehr wir uns lieben und vermissen, obwohl wir geradezu infantile
Sehnsüchte entwickeln, haben wir im gleichen Tempo das Gefühl aus der Politik
entfernt - abgesehen vom Reflex der Empörung, der Wut, der Fassungslosigkeit.
Das große Gefühl, das an die Gemeinschaft appelliert, der Patriotismus, das
Familiendenken, all das, was uns als Gesellschaft mehr Bedeutung verleiht als
die Summe der Einzelnen, gilt als verpönt.
Ausländische Politiker, die es schaffen, solche für jede
Gemeinschaft wichtigen Gefühle zu bedienen, werden mit entsprechenden Vokabeln
belegt: Vom Populisten, Machiavellisten bis zum modernen Faschisten.
Unsere Antwort ist dagegen der abstrakte Begriff, der einem
höheren Ziel dient: Wer glaubt, dass jemand als "Verfassungspatriot"
in Wallung gerät, kann natürlich nicht verstehen, dass andere ihr Land "lieben"
und hält dies sogar für eine gefährliche Gefühlsregung. In Deutschland wird
gerne das Lied vom "EU-Bürger" gesungen und gleichzeitig reagieren
Medien und Politik verständnislos auf die Entfremdung von diesem Kunstgebilde.
Die FDP taumelt der kompletten Bedeutungslosigkeit entgegen und fabuliert etwas
von "Liberalismus" - wessen Puls schlägt schneller, wenn er diesen
Begriff vernimmt?
Der Bauch gehört in
die Politik
Sind wir körperlose Wesen, die nur eine Reihe chemischer
Reaktionen abarbeiten - oder Wesen, die Ängste haben, Freude verspüren, sich
animieren oder deprimieren lassen, Initiative entwickeln oder geführt werden
wollen?
Der Bauch gehört in die Politik. Das haben viele geschmähte
Politiker von Sarah Palin bis Wladimir Putin begriffen - ganz egal, was man
von ihrer jeweiligen Politik hält. Je weniger wir das verstehen, umso stärker
wird die Entfremdung von Politik anhalten. Und umso wahrscheinlicher werden
begabte Alphatiere den Sieg gegen die abstrahierenden Weicheier davontragen.